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Ich hasse euch! - Aufarbeitung meiner Kindheit bei den Zeugen Jehovas Geschrieben für Selbsthilfe Infolink-Netzwerk, 2002 31 Jahre nachdem ich mit 14 Jahren das letzte Mal in der "Versammlung" war quälen mich immer noch einige Folgen meiner Kindheit bei den "Zeugen Jehovas". Immer wieder behindern mich tiefsitzende Hemmungen, Schuldgefühle, Verspannungen, Depressionen. Ich hatte all die Jahre gedacht, "na ein Glück, die "Zeugen"-Zeit ist ja längst vorbei, da will ich überhaupt nicht mehr dran denken." Eine Mischung aus Ekel, Auslachen und Wut überkam mich jedesmal, wenn ich ihnen irgendwo begegnete. Doch ich mußte mir einmal in aller Deutlichkeit klarmachen, was die acht Jahre bei den "Zeugen" für mich als Kind bedeutet haben und wie ich mich dabei gefühlt habe. Nur so konnte ich den blinden Fleck auf der Seele und die darin konservierten Gefühle für mich zurückzugewinnen. Nur so konnte ich herauszubekommen, welche Strukturen und Illusionen da noch immer in meinem Innern ein Spukdasein führen. Meine Mutter hatte sich den "Zeugen" angeschlossen, als ich sechs Jahre alt war. Ihre Ehe ging deswegen (und aus anderen Gründen) kaputt, mein Vater verließ uns. Ich lebte dann allein mit meiner Mutter. Mit Beginn der Pubertät, mit 13, 14 Jahren brach ich mit den "Zeugen", und beschloß. lieber Hippie zu werden und mich mit dem wirklichen Leben und seinen Widersprüchen zu konfrontieren. Ich beschloß, aufzuhören, meine Liebe zu Menschen, Musik, Kunst und zu meinem eigenen Körper zu leugnen. Das war nicht einfach. Da stand ich nun wie ein Computer mit einem völlig lebensuntauglichen Plattform-Programm auf der Festplatte, der nur weiß: das muß gelöscht und völlig neu geschrieben werden. Ich habe eine riesige Wut auf euch - ihr "Zeugen Jehovas", Prediger von Paranoia, Gehorsam und Verblödung Mein ganzer Körper haßt euch. Bei euch sollte ich ihn als Quelle der Schuld und Sünde ansehen und ihm und seinen Gefühlen mistrauen. Statt zu lernen, mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen, mußte ich mich in himmlischen Hirngespinsten verheddern. Meine Füße haben Wut auf euch, die ich mir zehn jahrelang ca. zehn Stunden im Monat (das war jedenfalls das Soll) im "Predigtdienst" plattgestanden und gelaufen habe. Statt euch zu hassen fing ich an, meine Füße zu hassen, die mir wehtaten. Vom Stehen aus "Gehorsam" bekam ich Spreizfüße und verkrampfte Waden. Stundenlang mußte ich mit meiner Mutter treppenrauf, treppenrunter laufen. Und mußte immer wieder dummpeinlich fremden Leuten Quatsch erzählen, den ich selbst nicht verstand. Meine Knie haben Wut auf euch, die ich mir acht Jahre lang fünf Stunden in der Woche bei euch steifgesessen habe. Sie schmerzen noch heute von dieser erzwungenen Steifheit. Und meine Mutter keifte mich immer an, den Rock darüber zu ziehen, damit es nicht "aufreizend" aussähe. Meine Oberschenkel haben Wut auf euch, die ich acht Jahre lang fünf Stunden in der Woche bei euren "Versammlungen" krampfhaft anspannen mußte, um den natürlichen Impuls, wegzulaufen, zu unterdrücken. "Zappel nicht herum", "Sitz still" keifte meine Mutter ständig. So konservierten meine Muskeln eine Energie, um bis ans Ende der Welt zu laufen - oder um alles in Klump zu treten. Dieses "Stillsitzen" ist verdammt anstrengend und als ich dann im Schulsport laufen sollte, war ich immer die letzte. Mein Hintern hat Wut auf euch, den ich mir acht Jahre lang fünf Stunden in der Woche bei euren "Versammlungen" plattsitzen mußte, und der ansonsten "unrein" bzw. quasi nicht vorhanden war. Schämen sollte ich mich für alles und jedes. Meine Mutter vertrimmte mich auch mal mit einem Teppichklopfer. Ich schämte mich so sehr, daß ich ein Mensch aus Fleisch und Blut war der existierte und wuchs, daß meine ganze linke Körperhälfte etwas kleiner wurde als die rechte, was dann zu einer leicht verkrümmten Hüfte und Wirbelsäule führte. Meinen Hintern in schöne Blue Jeans verpackt zu zeigen, war verboten. Ich habe mich dann mit Anfang der Pubertät für die Blue Jeans entschieden, und überhaupt für Hippies und Rock'n Roll. Ein Glück. Mein Unterleib hat Wut auf euch. "Sündiges Fleisch", "Satans Einfluß", daß ist "bäbä" - als ob ein kleines oder größeres Mädchen sich darunter überhaupt etwas vorstellen könnte. Meine Mutter vermittelte mir nicht nur mit Worten sondern besonders durch Gesten und Blicke einen Ekel vor dieser Körperregion. Mich selbst dort forschend und fühlend zu berühren, war strengstens verboten und ich wagte das auch kaum. Dank Hippies und LSD, Punkrock, linken politischen Gruppen und Psychtherapie und Bioenergetik habe ich später vieles von diesem Müll überwunden. Mein Beziehungsleben ist allerdings von tiefen Enttäuschungen und depressiven Phasen durchzogen. Mein Rücken hat Wut auf euch. Die von euch geforderte Haltung war Unterwerfung, Gehorsam. "Eigensinn ist Götzendienst" keifte eine "Schwester" mich an. Mit quasi göttlicher Autorität forderte meine Mutter Gehorsam von mir. Und wer sich Gottes Willen widersetzt, wir ja bekanntlich beim unmittelbar bevorstehenden jüngsten Gericht vernichtet, mit dem Tod bestraft. Als Datum des Weltuntergangs stand 1975 vor der Tür. Ein Kind ständig mit dem Tod zu bedrohen ist ein Verbrechen! Gleichzeitig war meine Mutter völlig unfähig, Konflikte offen zu diskutieren, "verstehen" war für sie ein Schimpfwort. Ihre Haarspaltereien und Verdrehungen, Retourkutschen und Vorwürfe machten mich verzweifelt. Die ganze Erziehung war ein einziges Kultivieren von Verlogenheit. Meine Mutter ließ ihre quasi schizophrene Leidenschaft an mir aus, abgöttische besitzergreifende "Liebe" und vernichtender Haß. Ich suchte ein Ventil und fand es im Malen. Ich malte riesige Stapel von Bildern, lebte in meinen blühenden inneren Phantasie-Welten, welche die fehlenden Freunde und die fehlende Lebendigkeit ersetzen mußten. Ich lernte, meine Mutter auszutricksen und durch eine Kombination von brav sein und Gejammer meine Interessen ab und zu durchzusetzen. So wurde ich selbst zum Teil dieses verlogenen Systems - und hatte gleichzeitig, egal was ich tat, ein schlechtes Gewissen. Entscheidungen fielen mir auch später häufig schwer - wer nicht gelernt hat, "Nein" zu sagen, kann auch nicht "Ja" sagen. Mein Bauch hat Wut auf euch. Um meine innere Leere, meinen Bewegungsdrang und meine ungestillte Sehnsucht nach Wärme und Liebe zu betäuben, fraß ich Schokolade und Süßigkeiten en Masse und wurde immer dicker und hatte nun auch noch deswegen Komplexe. Die größten Anstrengungen für meine Mutter und die "Zeugen" brachten ja kaum Wärme, Befriedigung oder Anerkennung. Meine Busen haben Wut auf euch. Als diese pubertätsbedingt anzuschwellen begannen, war dies meiner Mutter offensichtlich peinlich. Ich mußte sie möglichst verstecken und in ekelhaft kneifende BHs einsperren, während meine Mitschülerinnen fröhlich ihre Brüste unterm T-Shirt spazieren trugen. Meine Lungen haben Wut auf euch. Erstickt bin ich in eurem ekelhaften Dunst acht Jahre lang fünf Stunden in der Woche. Der Mief von alten, überheblichen Tanten und verklemmten Männern, langweilige Kinder und Jugendliche, die genauso verlogenen und feige waren wie ich und oft genauso überheblich wie ihre Eltern. Mein Herz hat Wut auf euch. Ihr wolltet mich töten! Ihr wolltet mich zu einer willenlosen, empfindungslosen Hülle machen, die durch ihre Unterwerfung und das auswendig gelernte Abspulen von eurem Quatsch eure Macht zementiert. Jeder normalen lebendigen Regung sollte ich mißtrauen, sie könnte ein Werk des Teufels sein. Mit offenem Herzen mit Menschen umzugehen, fiel mir auch viel später noch schwer. Ich neigte unbewußt immer wieder dazu, Beziehungen auf Abhängigkeiten zu bauen, weil ich mir wertlos vorkam. Ich war in alltäglichen Situationen zu keiner angemessenen spontanen Reaktion in der Lage, konnte auf mir entgegengebrachte Gefühle häufig nicht angemessen reagieren, meine Gefühle nicht ausdrücken. Ich war auch zeitweise arrogant und sah auf andere herab. Meine Schultern haben Wut auf euch. Ich hielt ich sie immer hochgezogen. Ihr habt mich mit euren blutrünstigen Geschichten in ständige Angst versetzt. Geschichten, die an Schrecklichkeit intensiver wirken als Horrorfilme, weil das Kind sie ja unmittlebar auf sich beziehen soll: 'Wenn du nicht brav und gehorsam bist, wirst du genauso bestraft und vernichtet'. Gleichzeitig lasteten auf diesen Schultern Zentner von angeblicher "Erbsünde", zentnerweise Anforderungen von "Gottes Auftrag" und ein ständiges schlechtes Gewissen. Mein Nacken hat Wut auf euch. Meine Arme haben Wut auf hassen euch. Die in acht Jahren lang fünf Stunden in der Woche Stillsitzen müssen aufgestaute Wut baute mir dicke Muskeln und einen chronisch verspannten Nacken. Ich will leben! Ich will nicht, daß ihr mich abtötet und abrichtet. Die Wut ist so schön und klar und reicht aus, um meine Fesseln zu zerschlagen. Ich könnte euch tagelang verprügeln für die ganzen Demütigungen, die ihr mir zugefügt habt. Wegen nichts. Ich wollte nur ein Mensch, ein Mädchen sein, daß geliebt und akzeptiert wird. Aber das gab es bei meiner Mutter nicht einfach. Ich mußte meine Rolle in ihrer konstruierten Lügenwelt brav spielen, damit ich ab und zu etwas Zuwendung bekam. Ich steckte riesige Energien in Bemühungen, sie glücklich zu machen. Ich hatte oft das Gefühl, daß sie nicht meine richtige Mutter ist, weil sie so eisig zu mir war und nicht begriff, daß ich einfach ein Mensch mit Gefühlen war. Meine Hände haben Wut auf euch. acht Jahre lang fünf Stunden in der Woche langweilten sie sich in den "Versammlungen" zu Tode, und die Finger begannen, sich gegenseitig zu massakrieren. Bei den ständigen Gebeten mußte ich sie immer falten, eine krampfhafte Haltung, die körpersprachlich eine totale Blockade ausdrückt, das Abschneiden aller Gefühle. Meine Mutter schlug mir häufig auf die Finger, wenn ich still sein sollte oder wenn ich etwas nicht anfassen sollte. Meine Mutter hielt mich sehr noch im Schulalter ständig an der Hand, so, als könnte ich nicht allein gehen und entsprechend Angst hatte ich, wenn ich allein war und klammerte mich an, wo ich konnte. An meinem Daumen lutschte ich aus verzweifelter Sehnsucht nach körperlicher Geborgenheit so exzessiv, daß ich schiefe Zähne bekam und eine Klammer tragen mußte. Ich wollte auch nicht immer in der "Versammlung" irgendwelchen schmierigen Tanten und Onkels die Hand geben und dann auch noch einen Knicks machen müssen. Wie widerlich. Mein Hals hat Wut auf euch. Mit eurem pornographischen Schreckensgedusel (damit meine ich die emotionale, man könnte auch sagen 'kitschige' Qualität) von "Endzeit", "Satan", Katastrophen, bevorstehender Vernichtung schnürtet ihr mir einen Strick um den Hals, der mir das Durchatmen unmöglich machte. Meinem kindlichen Körper fielen Bewegungen schwer, waren anstrengend, weil ich immer gegen die Angststarre ankämpfen mußte. Diese depressive "Trägheit" wurde mir dann noch als "Faulheit" vorgeworfen. Meine Kehle hat Wut auf euch. Ihr habt mir das Lügen beigebracht. Ich durfte nicht einfach sagen, was ich empfand, sondern mußte immer überlegen, ob das nicht gegen irgendwelche Regeln verstößt. Das auswendiggelernte Zeug mußte ich herunterschlucken und nachlabern, egal ob ich es verstand oder nicht. Ich hatte häufig einen Schluckauf. Ich möchte euch den ganzen unverdaulichen Quatsch, den ich fressen mußte, vor die Füße kotzen. Irgendwann noch in der Grundschule mußte ich auf Wunsch meiner Mutter Wunsch hin vor die Klasse treten und einen kurzen Vortrag halten, warum die Evolutionstheorie, die wir gerade durchnahmen, angeblich nicht mit der Bibel übereinstimmt, also warum der Lehrer Unrecht hat. Ich habe mich furchtbar geschämt und alle glotzten mich an. Aber ich schaltete meine Scham und Angst ab, meiner Mutter zuliebe. Meine Mutter beschwerte sich später öfter, ich sei so gefühllos und hätte so ein dickes Fell. In dem lebensfeindlichen Milieu der "Zeugen" brauchte ich das, um zu überleben. Meine Ohren haben Wut auf euch. acht Jahre lang mußte ich fünf Stunden in der Woche euren abstrusen Quatsch anhören. Hätte ich doch etwas sinnvolles gelernt in dieser Zeit, ich wäre heute Professor oder sonstwas interessantes. Stattdessen mußte ich mit 14 Jahren feststellen, daß die Denkstrukturen und das Weltbild, was ich bis dahin mir in staubiger Mühe reingequält hatte, so schnell wie möglich auf den Müll gehörte. Aber wie denkt man ohne Denkstrukturen und Weltbild? Man guckt sich alles genau an, wie es ist ...? Denkste, die Begriffs- und Verhaltensmuster, die für andere selbstverständlich erscheinen, mußte ich mir quasi ganz neu aneignen. Und das Gegenteil von dem bisher gelernten zu machen, ist im Übergang manchmal ganz gut, aber auf die Dauer nicht ausreichend. Viele Jahre später stolperte ich immer wieder über ideologische und emotionale Versatzstücke aus dem Jehovas-Baukasten, die noch nicht aufgelöst waren und meine freie Entwicklung blockierten. Es ist anstrengend, jedes dieser Steinchen herauszupulen und auf den Müll zu werfen, aber ohne Aufarbeitung tappt man immer wieder in Fallen aus Angst, Depression, Schuldgefühlen. All die Jahre mußten meine Ohren das schneidende Gekeife meiner Mutter ertragen, wenn etwas nicht nach ihren Vorstellungen lief. Sie hat die Angewohnheit, mit vermessenen Suggestivsätzen ("du tust bzw. denkst jetzt dies ...") mit mir zu reden, so als ob ich für sie als eigenständige Person gar nicht existierte. Ich verstand auch als Kind häufig gar nicht, was sie eigentlich von mir wollte. Dieses Gekeife hatte etwas Sadistisches und Vernichtendes. Meine Wangen haben Wut auf euch. Sie mußten immer wieder Schläge von meiner Mutter ertragen, und die Wangenmuskeln bauten eine eiserne Maske auf, hinter der ich meinen Schmerz und mein Verlorenheitsgefühl verstecken konnte. Ich grinste immer sehr viel. das hielten oberflächliche Leute für Freundlichkeit. Von diesem gefrorenen Grinsen bekam ich starke Paradontose. Meine Zunge hat Wut auf euch. Wenn jedes Wort eine Sünde sein konnte, wollte ich am liebsten gar nichts sprechen und fing an stark zu lispeln. Eine Zeitlang ging ich mit meiner Mutter zu einem Sprachtherapeuten. Noch heute fällt mir spontanes Sprechen mit Menschen oft schwer. Meine Augen haben Wut auf euch. Ich habe bestimmt in meinem Leben mehr geheult als ich Stunden in der "Versammlung" zugebracht habe. Aber genauso lange oder länger habe ich vor seelischen Schmerzen heulen mögen aber nicht gekonnt oder nicht gedurft. Acht Jahre lang mußte ich fünf Stunden in der Woche plus Vorbereitung usw. auf langweilige Sektenschriften starren. Sowas interessiert natürlich ein Kind nicht, aber ich mußte, weil meine Mutter meine Mitarbeit erwartete und sonst böse war. Ich verkrampfte meine Augen, für die diese einseitige Belastung zusätzlich zu Schule und Hausaufgaben sowieso zuviel war. Ich wollte diesen ganzen Mist gar nicht immer angucken müssen, aber ich mußte ja auch immer "aufpassen". Anderes sollte ich nicht sehen: Es gab bei uns zuhause ein Kunstbuch mit einigen Gemälden aus dem 18. oder 19. Jahrhundert, auf denen nackte Menschen dargestellt waren. Damit ich diese nicht sehen und so irgendwie auf "sündige" Gedanken kommen sollte, klebte meine Mutter die Bilder zu bzw. riß sie raus. Wenn ich zufällig irgendwo ein Liebespäärchen sah und meine Mutter fragte, "Was machen die?" war die Antwort meist "Ach, nichts". Auch bei anderen unbequemen Fragen war die Antwort immer "Das ist nichts". Zusammen mit dem seelischen Jammer führte dies alles zu einem schweren Sehfehler, so daß ich fortan eine Brille tragen mußte, was mich von meiner Umwelt noch weiter isolierte. Meine Mutter disziplinierte und strafte mich von klein auf täglich mit bösen, vernichtenden Blicken, die häufig das Ziel hatten, mich erstarren zu lassen, damit ich sie nicht störe, nicht auffällig bin, nicht aus der Rolle falle. Mein ganzer Kopf hat Wut auf euch. Ich habe nicht gelernt zu unterscheiden, was mir gut tut und was nicht und meine Interessen zu vertreten. Ich stand immer unter Druck, die Erwartungen meiner Mutter und der "Zeugen" zu erfüllen, dann war ich "gut" auch wenn es mir schlecht ging. Ich hatte dann ständig Schuldgefühle, weil ich irgendwelche Erwartungen nicht erfüllen konnte. Weil die Erwartungen selbst absurd waren. Ich wurde durch die "Zeugen-Jehovas"-Erziehung systematisch psychisch mishandelt. Der ganze Ansatz der "Zeugen" hat ausschließlich das Ziel, Menschen durch eine Kombination von Verängstigung und Aufbau von Illusionen abhängig zu machen. Süchtig nach der "geistigen Speise" der Wachtturm-Gesellschaft, die fortan jeden freien Gedanken ausschließt. Das funktioniert ähnlich wie ein Kettenbrief-System: Derjenige, der dabei ist und missioniert, darf sich dem Rest der Menschheit gegenüber - der ja "gottlos" ist und bald "vernichtet" wird - überlegen fühlen. Dieses auf Schwachsinn aufgebaute Überlegenheitsgefühl ist es, womit die intellektuell meist nicht allzu anspruchsvollen und häufig sozial schwachen Menschen geködert werden. Wobei fühlte ich mich gut oder stark bei den "Zeugen"? Mir sind auch einige "Zeugen" begegnet, die sich mir gegenüber tatsächlich "menschlich" verhalten haben. Das interessante daran ist aber, daß ich dies für erwähnenswert halte. Diese Art von Menschlichkeit und Wärme hätte ich als "normales" Kind nämlich von viel mehr Menschen erhalten, von denen ich durch meine isoliertes Dasein getrennt blieb. Eine "Zeugen"-Familie, die mich mal zu sich einluden, andere "Zeugen", bei denen ich mal ein paar Tage Urlaub machte. Das war das einzige, was bei den "Zeugen" ab und zu ganz nett war. Einzelne Spielkameraden gab es, genauso verloren wie ich, mit denen ich mich auch nicht richtig verstand. Geburtstagsfeiern, Feste, Fernsehen, Klassensprecherwahlen, sonstige Gemeinschaftsaktivitäten, Straßenspielen - alles tabu. Ich machte die Erfahrung, daß ich allein gegenüber einer Masse ("Versammlung" oder auch Schulklasse) oder gegenüber Fremden stehen, sprechen und auswendiggelerntes Zeug vertreten kann. Die "weichen Knie" werden eben verkrampft, das Fühlen abgestellt, dann geht das. Ich kann die Rolle spielen, die von mir erwartet wird. Ich kann um drei Ecken argumentieren, aus einem X ein U machen und Recht behalten - eklige Spitzfindigkeit anstelle von menschlicher Empathie (Einfühlsamkeit). Ich konnte mich bei den "Zeugen" irgendwie spaceig, mächtig fühlen - eine miese Überheblichkeit. Insgeheim dachte ich: Oh, der und die und die alle werden in Harmagedon bald vernichtet und ich werden hoffentlich ins Paradies kommen. Ihr werdet es noch sehen! Kongresse in fremden Städten mit teils kribbeligem Gemeinsachftsgefühl waren teils ganz lustig. Das könnte man aber z.b. bei Sport oder Musik einfacher haben. Überhaupt: etwas vertreten und als reales Ziel erachten, was normalen Menschen völlig unmöglich erscheint, erfordert eine gewisse "innere Stärke". Der Realitätssinn fehlte mir dann im späteren Leben auch öfter, was zu einem Kreislauf von Euphorie und Abstürzen führte. An illusorischen Hoffnungen zu hängen, auf ein Wunder zu warten wo andere längst eine Situation beendet hätten, führt zum Masochismus. Realitätssinn mit Vernunft und sozialer Kompetenz auszubilden war in der Kindheit Fehlanzeige. Nächstenliebe, Naturliebe: die Naturliebe der im Paradies zu streichelnden Löwen usw. hat wenig mit dem wirklichen Leben und seinen Widersprüchlichkeiten zu tun. Bestenfalls wird sich eine Zeitlang um sozial schwache "Interessierte" gekümmert, deren Last später durch Mitgliedschaft, Versklavung bei den "Zeugen" (durch die ganzen "Versammlungen" "Dienst" usw.) eher noch größer wird. Gewöhnliche Zeitungsabo-Verkäufer geben ja auch häufig Werbegeschenke. Die "Nächstenliebe" der Zeugen hört da auf, wo es um ehrliche offene Auseinandersetzung über die Probleme geht, die einen wirklich bewegen und berühren. Jede offene Gefühlsäußerung führte zu Konflikten und Erschlagen-Werden mit irgendwelchen Spitzfindigkeiten, Vorwürfen und Drohungen. Bei der Körper- und Sexualitätsfeindlichkeit der Zeugen, die natürlich als enormes inneres Druckmittel wirkt, werden sie auch nie einen anderen Menschen wirklich "annehmen" können. Pazifismus, Antirassismus, Internationalismus: für diese Themen wurde ich sensibilisiert, jedoch ohne daß die wirklichen Zusammenhänge diskutiert worden wären: Macht, Wirtschaftsinteressen, Politik, alternative Konzepte usw., wer sowas will wird jede Menge anderer Möglichkeiten finden, dafür zu arbeiten. Meine Mutter hat ihre Lebensangst bei den "Zeugen" kultiviert und nicht überwunden Die Verpflichtungen für die "Zeugen" - fünf Stunden "Versammlung" in der Woche, Zwei plus X Stunden "Predigtdienst" plus jeweilige Vorbereitung, alles zusätzlich zu Haushalt und Arbeit - saugten meiner Mutter die Energie aus den Knochen. Und mir, dem Kind natürlich auch. Jedoch fühlte sowohl sie als auch ich uns immer schuldig, nicht genug zu tun. Je eigenständiger, dh. in ihren Augen "aufsässiger" ich wurde, desto mehr gab meine Mutter mir die Schuld an ihrer Erschöpfung und Frustration, was mich natürlich zusätzlich belastete. In der Forderung meiner Mutter nach unbedingtem Gehorsam lebte eine faschistische Haltung weiter. Zumindest in der Anfangsphase der Nazizeit jubelten sie und ihre Familie (konservatives Bürgertum) Hitler begeistert zu. In meiner Jugendzeit und Zeit bei den "Zeugen" gab es dazu zuhause kaum sachliche Auseinandersetzung, die politische Haltung meiner Mutter war weiterhin stockkonservativ. Wie die meisten Menschen, die den Krieg erlebt haben, hat meine Mutter vermutlich ein schweres Angsttrauma davongetragen. Dazu kamen dann Schwierigkeiten in ihrer Ehe und dann standen plötzlich zwei "Jehovas"-Tanten vor der Tür, die für alles eine Lösung anboten. Unterwerfung und Gehorsam hatten die Nazis ja auch gefordert, aber diesmal war's ja für "Jehova". Sie kultivierte dann ihre innere Angst zu dem paranoiden "Zeugen-"-Weltbild, in dem hinter jedem Widerspruch "böse Absichten" stecken, jeder Zweifel ein "Werk des Teufels" ist. Ein klassischer psychotischer Projektionsmechanismus, wenn jemand nicht die Kraft hat, seine eigenen Gefühlen zuzulassen. Welch eine Anstrengung ist nötig, um sein Leben lang ständig gegen das Offensichtliche, die unvoreingenommene Wahrnehmung und die Logik anzukämpfen! Ich weiß nicht, ob ich über soviel Selbstverleugnung lachen oder weinen soll. Lachen ist bestimmt besser, wenn's auch tragisch ist. Auch meine Mutter hat ihre menschliche und auch teils sehr unkonventionelle Seite. Sie verwöhnte mich auch zeitweise, viele materielle Dinge bekam ich, wenn ich lange genug bettelte. Aber es war und ist auch heute noch kaum möglich, über ein gesellschaftliches oder persönliches Thema offen und sinnvoll argumentierend zu reden. An jedem problematischen Punkt läuft wieder der altbekannte Mechanismus ab: Leugnen der Argumente, polemische Angriffe auf die diese Argumente vertretenden Personen, Rückzug hinter Mauern unter eifrigem Einsatz von Giftpfeilen. Und selbst wenn ich mal einen Überzeugungssieg erreicht zu haben meinte, war ein paar Tage später alles wieder so, als hätte man gar nicht diskutiert. Vielleicht erscheint es nach all dem Beschriebenen merkwürdig, aber nach vielen Auseinandersetzungen, Brüchen, Wiederannäherungen habe ich heute ein einigermaßen gutes Verhältnis zu meiner Mutter. Sie hat mich in einigen schwierigen Phasen sehr unterstützt, wofür ich ihr dankbar bin. Zum Glück gab es in meiner Jugend einige wenige "ungläubige" Verwandte und Bekannte. Wie gut tat mir ein offener, ehrlicher Blick, jemand, der mich einfach als Mensch wahrnahm und nichts erwartete! Ich bin diesen Menschen unendlich dankbar. Wenn sie mich anblickten, konnte ich mal tief durchatmen - wörtlich und seelisch. Sie halfen mir, aus dem Schwachsinns-Paranoia-Labyrinth rauszufinden, was von außen betrachtet aussieht wie ein Papierkäfig, der keinem Windhauch standhält. Von innen kann er manchmal aussehen wie ein Kerker, aus dem es kein Entrinnen gibt. Aber die Eisenstangen sind nur aufgemalt. |