Texte - Reportagen - Kurzgeschichten

erschienen in OroPax Nr. 1 / 2005


Flügel am Abgrund

Regentropfen perlen an meinem schwarzen Lack herunter. Zugegeben, ich habe bessere Tage gesehen. Der Novemberwind pfeift zwischen meinen dünnen Beinen hindurch. Das Lokal, auf dessen steinigem, mit Pfützen überzogenen Vorplatz ich gelangweilt herumnstehe, strahlt eine düster-staubige Romantik aus, ein Waldgasthaus im Pawelschen Holz. Grosse Buchen und Pappeln wiegen sich im Wind. Auf der Landstrasse fährt gelegentlich ein Auto vorbei. Fast hätte ich das Päärchen nicht wahrgenommen, was aus dem Gebüsch heraus und auf mich zukam. Beide in grünem Parka, er in erdfarben-matschigen Jeans, sie in einer zerissenen Hose aus Kaninchenfell. Ihre löcherigen Bundeswehr-Boots knirschen einige Schritte über mit Kraut und Laub bedeckten Schotter.

Sie ruft "Hey, guck mal!", tritt auf mich zu und streichelt meine schwarze Haut. Sie öffnet knarrend meine Tastatur und hämmert wild und zärtlich auf ihr herum. Einige der Hämmerchen finden den Weg zu den Saiten, bringen sie in Schwingung, die sich dank der Resonanz meines Körpers zu einem Babylon von Unter- und Obertönen verdichtet. Ich vibrierte rhythmisch in düster-verstimmtem Moll. Lange hat niemand mehr ...

Jetzt bearbeiten sie mich zu zweit, er versucht es mit komplizierter indischen Trommelakrobatik. Einge meiner Tasten sind blind, eignen sich nur mehr zu einer Art Percussion. Ich stöhne und ächze. Sie interessiert sich für mein Inneres und öffnet meine Klappe. Ich sehe in ihre vom Acid riesig geweiteten Pupillen aus denen ein Gestrüpp bunter Halluzinationen in mich hinein rankt. Sie griff mir direkt in die Saiten, versucht ihnen mit ihren Fingernägeln Töne zu entlocken. Dünne Töne mischen sich mit dem Knistern der Herbstblätter, dem Krächzen der Krähen und dem leisen Tröpfeln des Regens.

"Ich wollte immer so gerne ein Klavier haben, und dies ist sogar ein richtiger Flügel ..." sagt sie. "Können wir ihn nicht irgendwie mitnehmen, er vergammelt hier!"

"Uns fällt schon was ein" sagt der Hippie durch seinen schon länger nicht gewaschenen Rauschebart, "Komm, wir gehen nach Hause und holen die Schubkarre!" Schließlich hatten sie bisher jegliches Hab und Gut auf der Schubkarre transportiert, Möbel und Öfen aus Abrißhäusern, gefundene Haushaltsgegenstände aus aufgelassenen Gärten, geklaute Bierkisten, geklaute abgelaufene Lebensmittel von einem Discounter, tonnenweise Holz von der nahen Autobahnbaustelle ... sie waren sozusagen Schubkarren-Akrobaten. Und das seit Wochen kaum noch abklingende LSD mobilisiert ungeahnte Kräfte.

Sie lassen mich also wieder allein mit dem Regen und den Krähen. Allein mit meinen Erinnerungen an hundert Jahre Kneipengeschichten, Hochzeiten, Parteiversammlungen, Tanzabende und all die mal harten und mal zärtlichen, mal feingliedrigen und mal kräftig gebauten Hände, die mich berührt und geliebt haben, die meine Höhen, MItten, Tiefen und Bässe zum Schwingen brachten. Jetzt warfen manchmal Kinder mit Steinen nach mir und Tauben benutzten mich als Ruheplatz. Einmal begannen sie, in meinem Innern ein Nest zu bauen, doch dann schloß jemand meinen Flügel. Noch immer leide ich unter ihrem Kot auf meiner tiefen A-Saite.

Es wird bereits dämmrig als die Hippies wiederkommen. Jetzt haben sie besagte Schubkarre dabei - und eine Axt. "Eine Super-Idee" sagt sie. "Als Ganzes hätten wir das Teil niemals transportieren können, aber wenn wir nur den Eisenrahmen mit den Saiten mitnehmen, dann haben wir eine tolle Harfe ..." Ich würde jetzt am liebsten weggerollen, aber der Boden ist unebenen und die Rollen unter meinen Füssen sind festgerostet. Schon zerbricht der Hippie mit einigem brutalen Ruckeln die Scharniere meines schwarzen Gefieders. Ich kreische erbärmlich und lasse mein düsterstes Grollen vernehmen. Er lässt sich nicht beirren und beginnt, nach und nach meinen Körper zu spalten. Ich wehrte mich nach Kräften, es ist schließlich edelstes Holz.

Nach einigen Stunden ist er müde geworden, und nun beginnt das Mädchen, ihre Zerstörungswut an mir auszulassen. Selbst meine Elfenbeintasten sind ihr nicht heilig, nur zum Vergnügen hackt sie auf ihnen herum und findet den Sound irgendwie psychedelisch. Es ist längst dunkel, als sie mit einigen schlauen Tricks und eingesetzter Hebelkraft mein Gerippe aus meiner Haut gelöst und auf ihre Schubkarre hieven.

Die junge Frau mit den großen Pupillen guckt gar nicht mehr so fröhlich. Sie hält ihre Hände um meine Knochen gekrallt, als ob ihr Leben davon abhängt und das ungewöhnliche Gespann schafft mit einigem Hau-Ruck den Weg durch die Pfützen auf die nahe Landstraße. Dort wechselt sich das Paar alle paar Hundert Meter ab, mal schiebt er und sie hält mich auf der Schubkarre in der Balance, mal umgekehrt. Zwischendurch machen sie Pausen und drehten sich Zigaretten. Nach einigen Kilometern gelangten wir in eine huckelige Einfahrt und dann auf einem matschigen Trampelpfad in einen Garten. Vor einer steilen Außentreppe zu einem halbfertigen Haus blieben wir stehen. Die beiden verschwinden im Haus, kommen aber bald darauf zurück und wollen Verstärkung holen, denn allein können sie mich unmöglich die Treppe zu ihrem Häuschen hoch schaffen. Erste Schneeflocken fallen. Mich fröstelt. Tief in der Nacht kommen sie mit einem Kumpel wieder, zwei weitere kommen aus dem Haus und gemeinsam stöhnen wir die enge Treppe hinauf . Mir haben sie einem Platz im hinteren Zimmer zugedacht. Ich sehe mich um. In einem alten Ofen knistert Holzfeuer. Im spärlichen Licht der geöffneten Ofenklappe und dem Schein einer Kerze sehe ich alte Teppiche und ein grosses Matratzenbett, auf einer roten Decke schnurren zwei schwarze Katzen. Die Wand dahinter ist mit zähnefletschenden psychedelischen Blasen bemalt, die ich in dem flackernden Licht nur erahnen kann. Wenigstens ist dies ein wärmerer Platz als draußen im Schneegestöber. Ich höre sie husten, sie rauchten schon wieder so komische Zigaretten. Die Jungs dämmern hinter Rauchwolken davon und geben keinen Mucks mehr von sich, die Hippie-Frau kommt nochmal zu mir und kitzelt etwas ungelenk an mir herum. Ich krächze nach Kräften tonales und atonales Chaos heraus, bald verliert sie die Lust. "Baby, Liebe ohne Resonanz ist Scheisse" will ich ihr sagen. Aber ohne meinen Resonanzkörper kommt nichts rüber. Sie kommt in den folgenden Tagen noch öfter zu mir und erzählt mir Geschichten vom fernen Indien, wohin sie und ihr Typ abhauen wollen.

Dann lungeren plötzlich Polizisten vom Rauschgiftdezernat mit gezückten Pistolen tagelang in meinem Zimmer herum und warten darauf, daß die Hippies mit ihrem Hasch von Einkaufen wiederkommen. Als sie die beiden in Handschellen abführen, bleibe ich stumm. Ich konnte mein Päärchen nicht mal warnen - was ich schon im eigenen Interesse gern getan hätte.

Nun stand ich jahrelang ganz allein zwischen zerkloppten Möbeln herum. Der Hippie hatte sich zum Abschied im Haus mit der Axt ausgetobt und das Ganze ästhetisch mit Bettfedern garniert. Der Geruch von Katzenscheiße und alter Asche hing in der Luft. Sonst war nichts los. Eines Tages kam ein von Dummheit und Neid zerferessenes Männlein und behauptete, es hätte das Haus gekauft. Ich versuchte, ihm zu sagen, daß Musik gut tut und seine Kinder bestimmt gerne mit mir spielen würden. Er verstand es nicht. Er begann Gift zu spucken: "Ich bin als Dreijähriger regelmäßig von meinem Vater mit seinem Ledergürtel gezüchtigt worden, so habe ich Disziplin und Gehorsam gelernt. Das brauchen die Kinder heute auch, die sind doch so unglaublich frech und verweichlicht ..." Fast wäre mein Gußeisenknochen geplatzt. Es war zu spät. "Das hier muß auch noch mit" sagte der Giftzwerg zu dem gleichgültig dreinblickenden Schrotthändler und seinem einen Kopf größeren Gehilfen.