Texte - Reportagen - Kurzgeschichten

Kurzgeschichte - Sommer 2008
entstanden im Kurs "Schreibwerkstatt / Was gibt's denn da zu Lachen?" geleitet von Axel Klingenberg

Das Geheimnis der Polymeere

"Angelegentlich ist die Armee nach Düsseldorf zu verlegen" . Diese Notiz war der einzige Hinweis. Neben der Leiche lag eine fast leere Cremedose aus grünlich schimmerndem Metall und dieser Zettel.

Die Kommissarin liess die Beweismittel in eine Tüte gleiten. Dabei bekamen ihre weissen Glacehandschuhe tiefrote Flecke. Ein Erschauern und leichtes Erröten breitete sich in ihrem Körper aus.

Die Leiche war bereits abtransportiert worden. Ein androgynes Wesen mit teilweise algenbesetzter, grünlicher Haut.

Das Zimmer in der verrotteten Villa war leer bis auf den wurmstichigen Schreibtisch und den von Moos überwucherten Teppich.

"Er - oder sie - ist an Akklimatisation gestorben, keine Fremdeinwirkung" sagte am nächsten Tag der Gerichtsmediziner. "Dies geschieht häufig, wenn jemand zu schnell aufgetaut wird." "20stes Jahrhundert?" fragte die Kommissarin. "Ich fürchte, ja", sagte der Mediziner ernst und fuhr fort: "Auf die Creme können wir uns noch keinen Reim machen. Aber es könnte sich um das seit damals verbotene Wasserintelligenz-Revitalisierungsmittel Aquasanti handeln, was damals gegen die bekanntermassen giftige allgemeine Durchstrahlung im Umlauf war, welche das menschliche Denkvermögen schädigt."

"... und letztlich die kontinentale Vereisung ausgelöst hat, der auch unser Freund zum Opfer gefallen sein dürfte. Aber hatte dieses Gegenmittel, Aquasanti, nicht auch virusähnliche, polymerzersetzende Nebenwirkungen?"

"Natürlich. Deswegen wurde es ja verboten"

"Und dieser Zettel?"

"Wahrscheinlich ein Code. Sagen Sie, diese roten und grünen Flecke auf Ihrer Haut, haben sie die seit gestern?".

Einen Tag später war die Rötung auf der Haut verschwunden, aber auch von der grünen Creme in den Asservaten war trotz sorgfältiger Verpackung nichts mehr vorhanden. Selbst von der umhüllenden Asservaten-Tüte war nur etwas Fettfleck-ähnliches zurückgeblieben.

Hanno R., der Chef des Gerichtslabors, tobte, als er das entdeckte. Doch sogleich wurde er von zwei impertinenten Lauten irritiert. Das eine war das unheimliche, andauernde dröhnende Heulen der Katastrophen-Sirenen, das andere das penetrant klingelnde Telefon.

Hanno R. ergriff den Hörer, der jedoch zur Hälfte als klebrige Masse an seiner Hand hinabtropfte. Er hörte die Stimme des Innenministers: "Ein extrem agressiver Virus, der Plastik zerstört, ent-polymerisiert, greift in rasender Geschwindigkeit um sich! Wie schätzen, in den Innenstadtbereichen frisst er 10 Meter in der Stunde! Die Dichtungen der Chemiewerke am Hafen müssen sofort erneuert werden! Der gesamte Verkehr ist lahmgelegt! Die Nahrungsmittelversorgung ist in Gefahr! Wir haben den Verdacht, dass sich die Quelle des Virus in ihrem Gebäudekomplex befindet!"

Der Stuhl, auf dem er saß, war wohl auch infiziert, denn er gab langsam nach.

Die Kommissarin betrat den Raum, sehr blass. "Wir haben den Code entschlüsselt, sie wissen doch, diesen Zettel 'Angelegentlich ...'". "Ja, und?" "Es handelt sich um eine physikalische Gleichung. Kurz gesagt beschreibt sie das Verhältnis von Neutrinos, Strahlung, Schallwellen und Informationsspeicherfähigkeit von Wasser. Welche im Ergebnis dazu führt, dass sowohl das menschliche Gehirn als auch alle chemischen und physikalischen Elemente, mit denen wir zu tun haben, sich bestimmten Schwingungen, auch Mikro-Mem-Viren genannt, wesentlich sensibeler und anfälliger verhalten als bisher angenommen."

"Ich verstehe nur Bahnhof" bellte Hanno R. und versuchte mit seinen vom Telefonhörer-Plastik verklebten Fingern seine hochmoderne aus Polyamid gefertigte Nadelstreifenhose fesstzuhalten. Doch diese hatte kein Erbarmen und tropfte auf den sich ebenfalls auflösenden Fussboden.

"Mikro-Mem-Viren??" fragte der Chef fassungslos.

"Ja. Meme sind übrigens, Genen vergleichbar, fundamentale Handlungsanweisungen, deren einziger Zweck es sit, sich fortzupflanzen. Wie kleinste musikalische Einheiten."

Hanno R. schüttelte bedächtig den Kopf, als wollte er überprüfen, ob sein Hals aus Plastik sei.

"Möglicherweise hat unsere Leiche die Formel damals aus einem militärischen Labor gestohlen. Dann wurde er selbst Opfer des Mikro-Mems.

Ein paar Chemiestudenten haben alles gestanden. Sie wollten sich im Urlaub einen Jux daraus machen, den Leichnam mit der sonst üblichen Basis-Materal-Meukose zu reaktivieren. Sie haben die Leiche mit ihrem Taschenbeamer aus Grönland hier in dieses Abbruchhaus gebeamt, um sie weiter untersuchen zu können."

"Grönland ... stimmt, ich habe gehört daß es da schöne Strände gibt. Mir ist es an der deutschen Nordsee auch viel zu warm ... !" sagte Hanno R.

Seine weiteren Worte wurden von einem unaufhaltsam anschwellenden Rauschen aufgesogen, kurz darauf legte sich eine Wolke luftundurchlässigen dickflüssigen Polymers über die Stadt.

Die Chemiestudenten gingen später als die "Retter des Computers" in die Geschichte ein, denn sie waren mit den beiden noch nicht infizierten Laptops in die Südsee entkommen.